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Pavlos Nirvanas - Die Verstorbene

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2022-08-18 2022-10-02 18.08.2022
Pavlos Nirvanas 0001
Pavlos Nirvanas

Pavlos Nirvanas (griechisch Παύλος Νιρβάνας) wude 1866 in Mariupol, Russisches Kaiserreich geboren, gestorben ist er 1937 in Athen, Griechenland. Er war ein griechischer Schriftsteller, der mit bürgerlichem Namen Petros K. Apostolidis hieß. Nirvanas’ Vater stammte aus Skopelos, seine Mutter aus Chios. Nirvanas studierte an der Universität Athen Medizin und arbeitete bis 1922 als Arzt bei der Marine. Er betätigte sich außerdem als Journalist und war ab 1928 Mitglied der Akademie von Athen. Obwohl er selbst nicht auf Skopelos geboren wurde, betrachtete er diese Insel doch als seine Heimat. Pavlos Nirvanas beschäftigte sich mit fast allen Genres der Literatur: er schrieb Erzählungen, Dramen, Gedichte, Essays, Kritiken, Romane, Satiren und zeitgeschichtliche Texte. Auch als Übersetzer trat er in Erscheinung.

Die folgende Erzählung „Die Verstorbene“ ist dem Buch „Το πέρασμα του Θεού και άλλα διηγήματα”, Athen 1922 entnommen und wurde von Markus List ins Deutsche übersetzt.

Pavlos Nirvanas 0002Die plötzliche Freundschaft von Andreas mit dem reichen Herrn, der vor kurzem aus Ägypten angekommen war, beschäftigte unseren Freundeskreis längere Zeit. Was konnte Andreas, ein Dichter, ein ungeselliger Mensch, der sich schwer tat mit neuen Bekanntschaften, gemein haben mit dem reichen Kaufmann aus Ägypten, der gekommen war, um seinen Sommer in Athen zu verbringen, der sich in einem der größten Vororthotels mit allen Annehmlichkeiten einquartiert hatte, inmitten eines Kreises von Plutokraten und Geschäftsmenschen?
„Vielleicht ist es ja ein Verwandter von ihm?“
„Wie kommst du da drauf! Er hat ihn erst neulich kennengelernt.“
„Na dann?“
Niemand konnte sich das Rätsel erklären. Andreas hatte sich schon fast aus unserer Gesellschaft zurückgezogen. Von Zeit zu Zeit trafen wir ihn mit seinem neuen Freund, mal auf der Tribüne in Faliros, mal am Strand, dann im Auto auf dem Land, und eines Abends sahen wir ihn zusammen mit ihm auf der Terrasse des „Aktaios“ beim Essen. Andreas grüßte uns immer zurückhaltend und mit einer Ausdrucksweise, als wolle er uns sagen:
„Nehmt es mir nicht krumm, meine Freunde! Von allem, was ihr euch in den Kopf setzen könnt, ist nichts richtig. Wenn ihr wüßtet ...“
Doch eines Abends schließlich entschloss sich Andreas, mir das Rätsel seiner unerklärlichen Freundschaft mit dem reichen Herrn aus Ägypten zu erklären. Wir waren beide völlig allein in einem kleinen Café auf dem Lande, und ohne dass ich ihn irgendwie aufgefordert hätte, schien Andreas einen Anlass für eine vertrauliche Mitteilung zu suchen.
„Dir sage ich jetzt alles!“ sprach er plötzlich zu mir.
„Ich habe nie daran gezweifelt ...“, murmelte ich.
„Natürlich“, fuhr er fort, „werden meine neuen Beziehungen mit dem Herrn aus Ägypten auf dich und die anderen Freunde Eindruck gemacht haben“.
Es schien fast als suchte er Verzeihung für diese Beziehung.
“Mache dir keine Gedanken!“, sagte ich zu ihm. „Jeder ist frei, seine Beziehungen so zu regeln, wie es ihm gefällt. Wem musst du Rede und Antwort stehen? Oder hattest du vielleicht Angst, falsch verstanden zu werden? Das wissen doch alle, dass du nicht zu den Menschen gehörst, die den Mäzenen hinterherjagen.“
Und ich klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken.
„Egal!“ sagte er. „Ich will aber, dass wenigstens du es weißt.“
Er wirkte betrübt, als ob er eine traurige Geschichte zu erzählen hätte. Ich zeigte keine Ungeduld, sein Geheimnis zu erfahren. So blieben wir einige Zeit still an diesem ruhigen Sommerabend.
„Also“, sagte er nach einer Weile, „diesen Herrn haben sie mir an einem Abend an einem Tisch am Strand vorgestellt. Herr Nikolaidis … Sein Name, ein sehr gebräuchlicher Name, hatte keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht. So saßen wir zusammen mit meinen zwei anderen Bekannten, die ihn mir vorgestellt hatten, und redeten über irgendwelche Dinge …
„Aber warum all das, mein Junge?“ sagte ich zu ihm. „Es macht den Eindruck, als ob du dich für ein Verbrechen entschuldigst, das es gar nicht gibt“.
„Nein, nein!“ antwortete er mir. „Hör zu. Du musst zuhören. Du machst dir keine Vorstellung, auf was das hinausläuft, so wie auch ich es mir damals nicht vorstellt hatte.“
Seine Stimme war tief und zitterte ein wenig.
„Nach kurzer Zeit“, fuhr er fort, „gingen die zwei anderen Männer und so blieb ich allein mit dem Herrn aus Ägypten. Wir unterhielten uns ein bißchen über allgemeine Dinge, die mich nicht besonders interessierten. Plötzlich sagte der Herr aus Ägypten zu mir: «Es scheint mir, dass Sie meine verstorbene Frau gekannt haben. Ich erinnere mich, dass sie einmal Ihren Namen erwähnt hat». Seine Frau? Ich überlegte ein wenig. Sein Name kam mir mit einer entfernten Geschichte wieder in mein Gedächtnis. Nikolaidis … Natürlich. Margarita – ich hatte dir einmal über mein früheres Gefühl für sie erzählt – hatte sich in Kairo mit einem Nikolaidis verheiratet. Ich hatte also vor mir … Stell dir vor. «Ach, natürlich!», sagte ich zu ihm und versuchte, meine Aufregung so gut ich konnte zu verbergen. «Ich hatte das Glück, früher einmal die bedauernswerte Frau in Kifisia kennenzulernen. Ich habe nicht gedacht … Jetzt erinnere ich mich. Nikolaidis … Natürlich. Es war mir ein Vergnügen, Herr Nikolaidis ...»
Andreas sprach so aufgeregt wie in jenem gleichen Augenblick, den er mir zu schildern versuchte.
„Ich stelle mir“, sagte ich zu ihm, „die Ergriffenheit von euch beiden vor, eine Ergriffenheit, die für jeden von euch besonders war“.
Andreas lächelte bitter.
„Meine kann ich nicht abstreiten!“, sagte er zu mir. „Du kennst meine Geschichte mit Margarita. Du weißt, wie sehr ich sie geliebt habe. Was sollen wir nochmal darüber reden? Sie ist dann gegangen, sie hat geheiratet, ich habe einen Namen gehört, den Namen von ihm, der mehr Glück hatte als ich. Danach habe ich in einer Zeitung von ihrem Tod gelesen, soviele Sachen, soviel Schmerz, einer nach dem andern. Eine Verstorbene bestimmte von da an mein ganzes Leben. Du begreifst meine Ergriffenheit. Was seine angeht, dazu kann ich nichts sagen. « Es scheint mir, dass Sie meine verstorbene Frau gekannt haben. Ich erinnere mich, dass sie einmal Ihren Namen erwähnt hat». Anschließend nichts mehr. Der Herr aus Ägypten fuhr fort, mit einem seltenen Vergnügen seine auserlesene Zigarre zu rauchen und mit ausgesprochener Fröhlichkeit über die hübschen Frauen zu reden, die vor uns vorbeigingen.“
„Ich kann mir denken, wie schlimm diese Grausamkeit des Herrn für dich war“, sagte ich zu ihm.
„Schlimm?“ rief Andreas. „Etwas ganz anderes. Vor mir sah ich meinen unwürdigen Rivalen. Eine tiefsitzende Eifersucht erschütterte mein ganzes Dasein. Ein füchterlicher Hass. Dieser Mensch war es, der mir mein Glück geraubt hatte. Ich stellte mir vor, wie die dicken, gewöhnlichen Lippen, die auf widerwärtige Art die große Zigarre festhielten, jene Lippen berührten, von deren Kuss ich geträumt hatte, jene jungfräuliche Wangen, die sich einst meinetwegen rot gefärbt hatten, jene Augen, die … Ich stand eilig auf und verabschiedete mich von ihm unter einem Vorwand. Ich fühlte, dass ich, wenn ich noch ein wenig geblieben wäre, fähig gewesen wäre, ihn an der Gurgel zu packen, meine Nägel hineinzugraben, ihn mit der Wut einer Bestie zu ersticken“.
Er hörte auf. Er konnte nicht weiterreden. Er war bemitleidenswert. Ich sagte kein Wort zu ihm, obwohl ich nicht verstehen konnte, wie aus diesem Hass von Andreas für seinen Rivalen diese merkwürdige Freundschaft, die alltägliche unerklärliche Beziehung zu ihm geworden war. Mit dem gleichen bitteren Lächeln, das mir kurz zuvor seine merkwürdige seelische Aufwallung gezeigt hatte, sagte er zu mir:
„Du kannst dir jetzt natürlich manche Sachen nicht erklären. Kann ich das vielleicht? Nun, am nächsten Tag setzte ich alle Hebel in Bewegung, um diesen Menschen zu treffen, den ich in meinem tiefen Inneren hasse. Glaubst du das? Dieser Mensch zieht mich an wie ein Magnet. Er wurde unentbehrlich für mich. Ich kann ohne ihn nicht leben. Wie erklärst du dir das? Wie?“
Er erwartete nicht, eine Erklärung zu hören. Auch ich versuchte nicht, ihm eine zu geben. Den ganzen Abend lang saßen wir schweigend unter dem Mysterium des sommerlichen Sternenhimmels.